Das war ein unglaubliches Spiel. 2005 bei der Tischtennis-Weltmeisterschaft stand Timo Boll kurz vor dem Sieg im Achtelfinale. Seinen Matchball hatte sein Gegner zwar noch parieren können, aber dabei, nach Ansicht des Schiedsrichters, die Platte nicht mehr getroffen. Damit stand Boll als Sieger fest und hätte ins Viertelfinale einziehen können. Aber der deutsche Tischtennisstar protestierte gegen die Entscheidung. Denn er habe genau gesehen, dass der Ball des Gegners die Platte noch berührt habe. Boll verlor den Punkt und schließlich das ganze Spiel.
Fair-Play-Preis des internationalen Tischtennis-Verbands
„Ich habe das nie bereut“, sagte er rückblickend in einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung. „Warum auch? Der Ball war an der Platte, also war es sein Punkt. Ich habe ja nicht etwas verloren, was mir gehört hat, sondern nur etwas zurückgegeben, was nie mein war – diesen Punkt eben. Ich kreide mir eher an, dass ich das Spiel nicht schon vorher gewonnen hatte.“ Ganz ohne Medaille blieb er dann nicht. Mit seinem Partner Christian Süß gewann er Silber im Doppel. Der internationale Tischtennis-Verband erkannte ihm nach dem Turnier den Fair-Play-Preis zu. Bolls Verhalten war für einen Profi-Sportler sehr ungewöhnlich, denn schließlich ging es nicht nur um Ruhm und Ehre, sondern auch um Geld. Und gerade beim Tischtennis wurde mit allen Mitteln gekämpft.
Boll wollte ein deutliches Zeichen setzen, und sein Vorbild machte Schule. Dass heute ein Spitzenspieler eine Schiedsrichterentscheidung zu seinen Ungunsten korrigiert, ist so selten nicht mehr. Boll hat das sogar bei dem Weltmeister und Olympiasieger Zhang Jike registriert. Respekt vor dem Gegner und Fair Play lohne sich immer, sagt Boll, „weil man mit sich selbst im Reinen ist. Es kann einen Sportler vielleicht mal ein bisschen was kosten, weil man ein Spiel verliert, aber so ein Erfolg wäre doch sowieso nichts wert. Alles andere ist Betrug an sich selbst. Ich möchte stolz auf meine Leistung sein, und das könnte ich nicht, wenn ich wüsste, dass ich mich nicht korrekt verhalten habe. Wir betreiben Sport, weil wir ihn lieben. Und eine große Liebe betrügt man nicht.“ Dass faires Spiel und Spitzenleistungen gut zusammen passen, hat Boll oft bewiesen. Er ist das Ausnahmetalent des deutschen und des europäischen Tischtennis.
Seit 2002 zählt Boll zur Weltspitze im Tischtennis
Timo Boll wurde am 8. März 1981 in Erbach im Odenwald geboren. Mit vier Jahren stand er zum ersten Mal an der Platte. Mit neun Jahren trainierte er schon im Leistungszentrum in Pfungstadt. Dann spielte er u. a. für die FTG Frankfurt und den TTV Gönnern. Aktuell ist er bei Borussia Düsseldorf. Bereits als Vierzehnjähriger hatte er bei den Schüler-Europameisterschaften drei Goldmedaillen gewonnen. Seit 2002 zählt Boll zur Weltspitze. Im Einzel wurde er bisher sechsmal Europameister, zweimal Weltcup-Sieger, fünfmal Europe TOP-12-Sieger und neunmal deutscher Meister. Bei der Weltmeisterschaft 2011 gewann er Bronze. Mit der Mannschaft holte er bei den Olympischen Spielen 2008 Silber und 2012 Bronze, bei Weltmeisterschaften dreimal Silber und bei Europameisterschaften fünfmal Gold. Außerdem gewann er im Doppel neben Silber bei der WM 2005 auch fünfmal Gold bei Europameisterschaften. Als erstem deutschen Spieler gelang es ihm, sich bis auf Platz Eins der Weltrangliste vorzukämpfen.
Boll ist ein Stratege am Tisch, keine reine Kämpfernatur wie Jörg Roßkopf, sondern ein Taktierer, der im richtigen Augenblick einen Topspin schlagen kann, der den Gesetzen der Physik zu widersprechen scheint. Damit ist er zu einem der wenigen ernst zu nehmenden Spieler geworden, die den Chinesen Paroli bieten können. In China, wo er 2005 und 2006 in der Superliga spielte, wird er von den Tischtennisfans wie eine Legende verehrt. Seine Spielweise wurde in China genau studiert. Dass Tischtennis in Deutschland nicht so populär ist wie in China, sieht er mit gemischten Gefühlen. Auf der einen Seite finde er das schade, sagte er dem kicker. Aber dadurch könne er auch ein normales Leben führen. „Das entspricht meinem Charakter. Ich bin ein eher scheuer, zurückhaltender Mensch, der nicht gerne in der Menge badet. Ich setze mich in ein Café ins letzte Eck und hoffe, dass mich keiner erkennt.“