Neuaufbau des Landes Hessen

Schon mehr als drei Wochen vor der offiziellen Kapitulation des Deutschen Reichs am 8. Mai 1945 war Hessen fest in amerikanischer Hand. Aber was die siegreichen Truppen vorfanden, war ein weitgehend zerstörtes Land. Nichts funktionierte mehr. An eine auch nur halbwegs geordnete Lebensmittelversorgung war nicht zu denken. Zudem strömten aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, die jetzt polnisch, tschechisch oder sowjetisch besetzt waren, Hunderttausende von Flüchtlingen in die Westzonen.

Suche nach politisch Unbelasteten für den Neuaufbau

Die amerikanische Militärregierung musste möglichst rasch neue Verwaltungsstrukturen schaffen, um die drängendsten Probleme zu lösen. Dabei war es gar nicht so einfach, politisch unbelastete Deutsche zu finden, die mit dem Neuaufbau des Landes beginnen konnten, das seit dem 19. September 1945 Groß-Hessen hieß. In seiner „Proklamation Nr. 2“ hatte der Oberste Befehlshaber der Amerikanischen Streitkräfte in Europa, Dwight D. Eisenhower, die Gründung des Landes bekannt gegeben, das sich, mit geringen Gebietsverlusten, aus der ehemaligen preußischen Provinz Hessen-Nassau und dem früheren Volksstaat Hessen zusammensetzte.

Zum ersten Ministerpräsidenten ernannten die Amerikaner nach einer langwierigen Kandidatensuche am 16. Oktober 1945 den 67-jährigen Rechtsanwalt und Wirtschaftsprofessor Karl Geiler, der, so sein Biograph Walter Mühlhausen, „all die Eigenschaften zu besitzen schien, die in den Augen der Amerikaner für die Leitung eines Allparteienkabinetts erforderlich waren. Geiler besaß Autorität, Kompetenz, Sachverstand und eine nötige Portion ‚Dickhäutigkeit‘.“ Und er war während der NS-Zeit nicht Parteimitglied gewesen, sondern politisch verfolgt worden.

Politische Verfolgung Geilers während der NS-Zeit

Der am 10. August 1878 im Schwarzwaldort Schönau geborene Sohn eines hohen badischen Justizbeamten hatte Jura in Freiburg, Berlin und Heidelberg studiert, wo er 1910 mit einer Arbeit über das Handelsrecht promoviert wurde. Ein Jahr zu-
vor war er in Mannheim in die renommierte Anwaltskanzlei des natio­nalliberalen Reichstagsabgeordneten Ernst Bassermann eingetreten. 1921 habilitierte er sich und wurde zunächst zum außerplanmäßigen und dann, 1928, zum ordentlichen Honorarprofessor für Finanz- und Wirtschaftsrecht ernannt. In der Weimarer Republik war Geiler einer der angesehensten Wirtschaftsanwälte und Finanzrechtler. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten bekam er zunehmend Schwierigkeiten, weil er weiterhin mit jüdischen Juristen zusammenarbeitete und sich nicht von seiner, im NS-Jargon, ‚halb-jüdischen‘ Ehefrau trennen wollte. 1939 wurden ihm Lehrbefugnis und Professur entzogen.

Weichenstellungen für die Zukunft Hessens

Mit dem Wirtschaftsfachmann Karl Geiler ernannten die amerikanischen Militärbehörden einen Ministerpräsidenten, der zwar parteilos war, aber Sympathien für die neugegründeten CDU und LDP (die spätere FDP) erkennen ließ, weniger für die SPD und die KPD. Konflikte waren vorprogrammiert, sowohl mit den Militärbehörden, die ihre Interessen durchzusetzen suchten – und letztlich am längeren Hebel saßen – als auch mit den erstarkenden Parteien, die selbst an die Macht strebten.

Geiler gelang es mit seinem Allparteienkabinett, die Voraussetzungen für funktionierende Strukturen auf allen politischen Ebenen zu schaffen. Mehr war in den 15 Monaten seiner Amtszeit nicht möglich. Er ließ Kommunalwahlen in Hessen durchführen und die Verfassungsberatende Versammlung durch die Bevölkerung bestimmen. Mit seiner Idee, in die zukünftige hessische Verfassung ein Zweikammersystem aufzunehmen, konnte er sich nicht durchsetzen. Am 1. Dezember 1946 wurde die neue hessische Verfassung bei einer Volksabstimmung mit Zweidrittelmehrheit angenommen. Aus der gleichzeitig stattfindenden ersten Landtagswahl gingen die SPD und die CDU als stärkste Parteien hervor. Für Geiler gab es keine politische Zukunft mehr. Bis zu seinem Tod am 14. September 1953 widmete er sich vor allem der wissenschaftlichen Lehre und Forschung, seinen zahlreichen Aufsichtsratsposten und dem Automobilclub von Deutschland, dessen Präsident er sechs Jahre lang war.